Möglichkeiten einer digitalen, annotierten und hypertextualisierten Edition von Holocaust-Literatur am Beispiel der Lodzer Getto Chronik

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Authorship
  1. 1. Jörg Stein

    Justus-Liebig-Universität Gießen (University of Gießen)

  2. 2. Maja Bärenfänger

    Justus-Liebig-Universität Gießen (University of Gießen)

Work text
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"Möglichkeiten einer digitalen, annotierten und hypertextualisierten Edition von Holocaust-Literatur am Beispiel der Lodzer Getto Chronik" - die im Titel dieser Magisterarbeit angesprochenen Themenfelder machen deutlich, dass es sich um eine interdisziplinär orientierte Arbeit handelt, in der informationstechnologische Verfahren im Rahmen der Edition von Texten der Gattung Holocaust-Literatur eingesetzt wurden.
In dieser Arbeit wurde zunächst die These erörtert, ob das der Gattung Holocaust-Literatur inhärente problematische Verhältnis von Literatur und Geschichte durch eine hypertextuelle Darstellung der Texte zu 'lösen' sein kann und dadurch letztlich ein Gewinn für die Aufbereitung der Vergangenheit erwachsen kann. Der Grund für die Annahme einer Adäquatheit bzw. besonderen Berechtigung einer hypertextuellen Repräsentation von Holocaust-Literatur liegt begründet in den spezifischen Charakteristika der Gattung: Holocaustliteratur, egal ob dokumentarisch oder fiktional, hat eine gemeinsame Intention, nämlich das unbeschreibbare, unfassbare Grauen des Holocaust zu vermitteln. Diesem Anspruch steht die Tatsache entgegen, dass die Autoren sachlichen Irrtümern unterlagen, weil sie von der Außenwelt isoliert waren oder aufgrund der Desinformationspolitik der Nationalsozialisten vieles nicht wussten oder falsch erfuhren und weil sie von Selbst- oder Fremdzensur betroffen waren. Um nun dem Anspruch gerecht zu werden, die schrecklichen Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 im Rahmen einer heutigen Edition der Texte wahrheitsgetreu darzustellen, scheint eine Kommentierung der Texte unumgänglich zu sein. Eine explizite Kommentierung von außen und aus heutiger Sicht wurde vom Autorenteam jedoch abgelehnt, da dies nach ihrer Auffassung einen zu starken Eingriff in den Text bedeutet und die Rezeption des Textes zu sehr lenkt. Statt dessen wurde versucht, durch die Kontextualisierung bzw. Vernetzung verschiedener Texte aus dem Lodzer Getto in einem Hypertextsystem eine so genannte 'stille' Kommentierung der Texte zu erzielen. Durch die parallele Darbietung von Texten mit unterschiedlichen Perspektiven auf ein Thema bzw. Ereignis sollte zum einen trotz der faktischen Mängel der einzelnen Texte eine nach Ganzheitlichkeit strebende Darstellung der historischen Fakten und ihrer literarischen Umsetzung erreicht werden, und zum anderen sollte auf diese Weise eine Alternative zu einer Geschichtsschreibung geboten werden, in der die Ereignisse des Holocaust monologisch und universalisierend dargestellt und einige als faktisch richtig bewertete Texte privilegiert werden, andere als faktisch falsch aus der offiziellen Darstellung des Holocaust ausgeklammert bleiben.
Ein aus diesen Überlegungen heraus konzipierter Hypertext zur Lodzer Getto Chronik, einem ca. zweitausend Seiten umfassenden Text, der zwischen 1941 und 1944 im Lodzer Getto entstand und im Auftrag des Ältesten der Juden im Getto die täglichen Ereignisse im Getto widerzuspiegeln versucht, wurde deshalb mit dem Ziel erstellt, die heterogenen, z.T. auch widersprüchlichen Erfahrungen der Opfer in das Zentrum der Darstellung des Holocaust zu stellen und Geschichte auf diese Weise zu individualisieren - auch und gerade vor dem Hintergrund, dass die Nationalsozialisten eine systematische Entindividualisierung der Opfer des Holocaust betrieben.
Zur Kontextualisierung der Lodzer Getto Chronik wurde diese mit Auszügen aus allen bisher herausgegebenen deutschsprachigen Texten aus dem Lodzer Getto, die während der Ereignisse entstanden, ergänzt.
Neben der hypertextuellen Vernetzung der Texte aus dem Lodzer Getto stand als zweiter Aspekt die Annotation der Texte im Zentrum dieser Arbeit. Da es sich bei der Lodzer Getto Chronik um ein sehr umfangreiches und inhaltlich heterogenes Dokument handelt, das für die unterschiedlichsten Disziplinen (Geschichte, Soziologie, Literatur- und Sprachwissenschaft usw.) von Interesse sein kann, ist eine Annotation der Texte mittels Markup-Sprachen mit dem Ziel eines verbesserten Information Retrieval extrem sinnvoll. Da mit den Richtlinien der TEI ein geeignetes und zugleich standardisiertes Instrumentarium zur Annotation von Texten vorliegt, wurden die Texte des Korpus, die entweder als Printtexte vorlagen oder im Microsoft Word Format, mit einer speziell für die Belange der Chronik angepassten TEI-DTD - die Ergebnisse einer Korpusanalyse wurden als Attributwertvorgaben in die DTD eingearbeitet - systematisch und detailliert aufbereitet. Aus den hieraus resultierenden XML-Dokumenten wurden mit Hilfe von XSLT-Stylesheets Datenbankeinträge für eine MySQL-Datenbank erzeugt, die mittels PHP-Skripten aus dem Hypertextsystem zur Lodzer Getto Chronik heraus angesprochen werden kann. Daneben wurden ebenfalls mittels XSLT-Stylesheets für die Tageschroniken der Lodzer Getto Chronik drei unterschiedliche Ansichten generiert: eine Originalansicht (im Prototyp noch nicht realisiert), eine textkritische Ansicht (für die der Text rein textkritisch ediert wurde) und eine Leseansicht (in der interessante oder kommentierungsbedürftige Textstellen hervorgehoben sind, sich über Links kleine Pop-Up-Fenster mit Zusatzinformationen öffnen lassen und Links zu anderen, thematisch ähnlichen Texten enthalten sind).
Neben der Möglichkeit, im Hypertextsystem explizite Suchanfragen zu verschiedenen Aspekten der Texte (Themen, Personen, Organisationen, Orte, Daten) zu stellen, wurden für die Chronik-Texte automatisch Links zu thematisch verwandten Texten generiert, d.h. dass auf Anfrage innerhalb der Leseansicht einer Tageschronik in einem Inline-Frame weitere Textstellen angezeigt werden können: Auf Basis der Annotation der Tageschroniken werden für jedes vorkommende index-Element die Werte der level1- bis level4-Attribute (deren Werte in der DTD vorgegeben sind) Datenbankanfragen abgesetzt, so dass die mit gleichen level-Attributen annotierten Texte erkannt und ausgegeben werden können. Für diese thematische Auswertung der Texte (auf Basis einer Anfrage an die Datenbank) wurden die im ersten Teil der Arbeit diskutierten Thesen aufgegriffen und die theoretisch geforderte 'stille' Kommentierung eines Textes durch andere Texte praktisch umgesetzt: Zu jedem Text können immer andere Texte in einem parallelen Frame angezeigt werden. Die Kontrastierung von mehreren Texten innerhalb eines Browser-Fensters wird auch bei einem dritten Rezeptionszugang zu den Texten verwirklicht, in dem über die Verlinkung eines grafischen Abbildes eines für einen Bereich der Domäne Getto entwickelten semantischen Netzes Texte (die mit dem jeweiligen Knoten des semantischen Netzes assoziiert werden können) in drei parallelen "Fenstern" angezeigt werden. Auch hier funktioniert die Zuordnung von Texten zu einem Thema (bzw. Knoten) automatisch über das index-Element.
In der Leseansicht der Tageschroniken werden (ermöglicht durch die detaillierte XML-Annotation) neben den Verlinkungsangeboten auch zusätzliche Informationen zu einer Textpassage angezeigt, wie z.B. Angaben über die Bedeutung eines Wortes, seine Einordnung in einen Sprachraum, einen zeitlichen Kontext etc. oder Angaben über stilistische Eigenschaften eines Textabschnitts. Um diese Metainformationen vom eigentlichen Text zu trennen und so den Textinhalt selbst unberührt zu lassen, wurden Links auf kleine Pop-Up-Fenster generiert, in denen sämtliche Informationen zu einer Textpassage aufgeführt werden.
Die in den XML-Dokumenten kodierten statistischen Angaben (z.B. über Nahrungslieferungen durch die deutsche Gettoverwaltung bzw. Nahrungsausgaben durch die jüdische Verwaltung oder Angaben über Sterbefälle und Geburten, Festnahmen sowie Bevölkerungszahlen) sowie die stilistischen Annotationen werden bislang noch nicht durch Information-Retrieval-Funktionen verfügbar gemacht. Mittelfristig geplant ist jedoch ein Ausbau der Funktionalität des Hypertextsystems, so dass z.B. durch die Auswertung der statistischen Nahrungsangaben möglicherweise der Beweis für eine gezielte Unterernährung des Gettos durch die deutsche Gettoverwaltung erbracht werden kann. Auch die Auswertung der syntaktischen Strukturen der Tageschroniken oder die Verwendung rhetorischer Figuren bietet sich für die Lodzer Getto Chronik an, um so eventuell Aufschlüsse über die Autorschaft bestimmter Tageschroniken gewinnen zu können. Bislang sind nur wenige Texte der Chronik aufgrund von Initialen einem bestimmten Autor explizit zuzuordnen, durch die quantitative und qualitative Auswertung genannter sprachlicher Mittel wäre hier eventuell eine Verbesserung der Forschungslage möglich.
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ACH/ALLC / ACH/ICCH / ALLC/EADH - 2004

Hosted at Göteborg University (Gothenburg)

Gothenborg, Sweden

June 11, 2004 - June 16, 2004

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Series: ACH/ICCH (24), ALLC/EADH (31), ACH/ALLC (16)

Organizers: ACH, ALLC

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