Tanz annotieren - Zur Entstehung, den Möglichkeiten und den Perspektiven digitaler Methoden in der Tanzwissenschaft

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  1. 1. David Rittershaus

    Fachhochschule Mainz (Mainz University of Applied Sciences)

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Der Choreograph William Forsythe und die digitalen Technologien
In seiner gut dreißigjährigen Schaffensphase in Frankfurt am Main initiierte und unterstützte der Choreograph William Forsythe mehrere Großprojekte, die sich intensiv mit den Möglichkeiten zur digitalen Aufzeichnung, Archivierung, Vermittlung und Publikation von Tanz auseinandersetzten. Es sind im Laufe dieser Projekte Softwareanwendungen entstanden, die in ihrer heutigen Weiterentwicklung die Verwendung in der Tanzpraxis erlauben. Angesichts der insgesamt wachsenden Sammlungen tanzbezogener Daten stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Form digitale Methoden auch in der Tanzwissenschaft zum Tragen kommen können. Im Folgenden soll anhand der Initiativen William Forsythes die Entwicklung nachgezeichnet werden, um anschließend grundlegende Fragen bezüglich der Möglichkeiten digitaler Methoden für die Tanzwissenschaft zu diskutieren.
In den insgesamt zwanzig Jahren (1984-2004) unter Forsythes Leitung wurde das Frankfurter Ballett zu einem der bedeutendsten Tanzensembles der Welt. Obwohl Forsythe sich dem Ballett verbunden sah, entwickelte er immer mehr eine eigene Bewegungssprache (Siegmund 2011). Forsythe suchte daher auch nach neuen Möglichkeiten der Aufzeichnung und Vermittlung für seinen Tanz, der sich gar nicht oder nur schwer mit „herkömmlicher“ Tanznotation (Jeschke, 2010) erfassen lässt. Er wandte sich dafür bereits in den 1990er Jahren digitalen Technologien zu. So entstand in dieser Zeit in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe (ZKM) die CD-ROM
Improvisation Technologies: a tool for the analytical dance eye. Sie beinhaltet knapp 65 Videos, in denen Forsythe Bewegungen vorführt und erläutert. Die Videos werden von Grafiken überlagert, die räumliche Relationen und Bezüge in und um den Körper herum veranschaulichen und sich als Annotationen beschreiben lassen (DeLahunta & Jenett 2017: 68).

Die Möglichkeiten digitaler Technologien nutzte Forsythe für seine Zwecke mit seinem neuen Ensemble
The Forsythe Company von 2005 an verstärkt. Gemeinsam mit einem Team der Ohio State University wurden die inneren organisatorischen Strukturen der Choreographie
One Flat Thing, reproduced herausgearbeitet, visualisiert und unter dem Titel
Synchronous Objects
publiziert. Annotationen dienen hier, wie DeLahunta und Jenett darlegen, zu Zwecken der Repräsentation: “[…] not only to draw attention to two key choreographic structuring components, the cueing and alignment systems, but also as a part of instructional videos.“ (DeLahunta & Jenett 2017: 70).

Piecemaker - Software zur Prozessdokumentation im Tanz

Beinahe gleichzeitig entwickelte das Ensemblemitglied David Kern eine webbasierte Anwendung, die er
Piecemaker nannte, und die von 2008 bis 2014
The Forsythe Company zur digitalen Aufzeichnung von Proben und Aufführungen diente. Die Webanwendung ermöglichte es zeitgleich Videos und schriftliche Anmerkungen zu erfassen und verband beides automatisch miteinander, sodass die Anmerkungen als Videoannotationen gespeichert wurden. In der Zeit der Nutzung von
Piecemaker durch die Forsythe Company ist ein ausgesprochen umfangreiches und einzigartiges digitales Archiv entstanden, das von einigen Stücken die Entstehung beinahe vollständig dokumentiert.

Version 1 der
Piecemaker-Webanwendung, wie sie von
The Forsythe Company verwendet wurde.

Mit dem Projekt
Motion Bank
gelang es Forsythe ein weiteres großes Vorhaben zur Erforschung digitaler Tanzaufzeichnung zu initiieren.
Motion Bank übernahm die
Piecemaker Anwendung und entwickelte sie weiter, um Choreographien einiger bedeutender Künstler*innen des Zeitgenössischen Tanzes aufzuzeichnen und zu annotieren (DeLahunta & Jenett 2017: 73). Die Ergebnisse wurden in Form sogenannter
Online Scores im Web
veröffentlicht und gewähren einen Einblick in die Konzepte und die Praxis der jeweiligen Choreograph*innen. Nach dem Ende der Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes gelang es Florian Jenett
Motion Bank 2016 als Forschungsprojekt an der Hochschule Mainz zu
etablieren, wo er es gemeinsam mit Scott DeLahunta leitet. Im Rahmen der Forschungsarbeit konnten seither die
Piecemaker-Anwendung und die Publikationsplattform zum
Motion Bank Web System weiterentwickelt und dessen Einsatz mit verschiedenen Partnern in der Tanzpraxis erprobt werden. Dabei wird der Ansatz verfolgt den Tanzschaffenden eine niederschwellige und freie Software an die Hand zu geben, mit der sie ihre eigene Praxis aufzeichnen und annotieren können.

Tanz annotieren
Das Besondere an
Piecemaker ist, dass die Annotationen zwar auch anhand eines Videos erstellt werden können, vor allem aber im Tanzstudio mit dem Blick auf das Geschehen im Raum aufgezeichnet werden. Dieses Verfahren zur Annotation von Tanz nennen wir Live-Annotation und es unterscheidet sich von der Post-Annotation, bei der Annotationen nachträglich bzw. anhand zeitbasierter Medien hinzugefügt werden. Die über sechs Jahre hinweg entstandenen Annotationen im Tanzstudio der Forsythe Company, wurden größtenteils von der Dramaturgin des Ensembles, Freya Vass-Rhee, als Live-Annotationen erstellt. Sie hielt darin Anweisungen des Choreographen, Diskussionen des Ensembles, Szenenabläufe, Licht- und Musikeinsätze usw. fest. Die Annotationen sind dabei keineswegs „in einer algorithmischen Strenge, Konsequenz und Ausnahmslosigkeit […] formalisiert“ (Rapp 2017, S. 256), die eine maschinelle Auswertung ohne Weiteres zulassen würde. Eine „Ontologie“ liegt ihnen nicht zugrunde. Dennoch bringen sie Metadaten mit sich, die es ermöglichen, die Daten in verschiedenen Benutzeroberflächen strukturiert zu veranschaulichen. Die Annotationen selbst enthalten für Tanzforschende Informationen, die sich aus dem Video alleine nicht erschließen lassen, sondern die Anwesenheit bei der Probe oder der Aufführung voraussetzen oder Innenansichten der beteiligten Künstler*innen widerspiegeln. Ein großes Potenzial der Annotation zeitbasierter Medien im Tanz ist die Versammlung unterschiedlicher Perspektiven wie Innen- und Außensicht, Nähe zum Geschehen (Live-Annotation) und Distanz (Post-Annotation).

Zu der aktuellen Überarbeitung und der Integration von
Piecemaker in das
Motion Bank Web System gehört auch die Änderung der Datenstruktur, die nun auf dem Web Annotation Data Model des
W3C aufbaut und mit Linked Data kompatibel ist. So ist es theoretisch in Zukunft möglich verschiedene Datensätze zu verlinken oder mit anderen digitalen Tanzarchiven, wie bspw. dem digitalen Pina Bausch Archiv (Thull 2014), zu verbinden. Dafür müssten jedoch überhaupt erst Top-Level-Ontologies geschaffen werden. Angesichts der Heterogenität der Ansätze und Konzepte im Zeitgenössischen Tanz, die sich oftmals dezidiert versuchen einer Kategorisierung zu entziehen und nicht mehr auf ein standardisiertes Bewegungsrepertoire zurückgreifen, ergeben sich für die Schaffung von „Ontologien“ auf unterschiedlichen Ebenen einige Problemstellungen, die auch auf grundsätzliche Fragen digitaler Wissensrepräsentation verweisen.

Ansicht aus der derzeitigen Weiterentwicklung von
Piecemaker, inzwischen Teil des
Motion Bank Systems. Live-annotierte Probe der tanzmainz Compagnie am Staatstheater Mainz mit Choreograph Taneli Törmä.

Tanzwissenschaft als kritische Wissenschaft
Wenn es für die Geisteswissenschaften ein “systembedingtes Primat des Individuellen vor dem Allgemeinen“ (Jannidis 2017: 107) gibt, gilt das für die Erforschung des Zeitgenössischen Tanzes allemal: Ihn selbst charakterisieren „Diffusionen heterogener Tanzstile und choreographischer Verfahren“, ein fortlaufender Wandel von Formen in einem Prozess ständiger „Überarbeitung und Um-Schreibung“ (Traub 2001: 181-184). Die Tanz- und Theaterwissenschaft hat es mit Singulärem zu tun, will sie es damit aufnehmen, so der Theaterwissenschaftler Nikolaus Müller-Schöll, muss sie „[…] zu allererst die mit ihrem Namen gesetzten Voraussetzungen – das Theater wie die Wissenschaft – radikal in Frage stellen.“ (Müller-Schöll 2016: 150). Die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein sieht gerade in dem Finden einer Sprache für dynamische Vorgänge eine Herausforderung für Wissenschaftler*innen, die scheitern muss. Daher sei Tanzwissenschaft immer auch Wissenschaftskritik „[…] insofern, als sie sich gegen ein Wissen wendet, das dynamische Vorgänge über statische Konzepte zu fassen versucht.“ (Klein 2007: 33). Tanzwissen, über das Tänzer aufgrund körperlicher Erfahrung verfügen, kennzeichnet Klein als „spezifisches narratives Wissen“ (Klein 2007: 32). Vor diesem Hintergrund bleiben Fragen bezüglich der quantitativen bzw. maschinellen Auswertung tanzbezogener Daten offen, beispielsweise inwiefern damit verbundene Verfahren der Kategorisierung und Formalisierung gerade die Spezifik eliminieren, die den Tanz auszeichnet, oder inwiefern die Komplexität zeitgenössischer Tanzpraxis reduziert wird, die von der Tanzwissenschaft sonst narrativ abgebildet werden kann. Als kritische Wissenschaft, die immer auch ihre eigenen Grundbedingungen reflektiert, muss die Tanzwissenschaft, will sie mit digitalen Methoden arbeiten, sich mit den offenen Fragen digitaler Wissensrepräsentation auseinandersetzen:
„[...] there is a lot of work to be done on unpicking the normative values which underlie the kinds of schema and classification embedded within the algorithmic data structures of linked data. Indeed, the fragmentation of knowledge into chunks that can be composed and recomposed at will points to the nature of a computational episteme which privileges knowledge divided into non-narrative shards of information […]. Additionally, the political economy of linked data, and linked open data, raises important questions for the way in which humanities knowledge is converted into data lakes that become a kind of oil for a postmodern capitalism.“ (Berry & Fagerjord 2017: 77)

Fazit
Der Einsatz digitaler Methoden und ihre Erforschung stehen in der Tanzwissenschaft noch am Anfang. Während mit der maschinellen und quantitativen Auswertung tanzbezogener Daten noch viele offene Fragen verbunden sind, zeichnen sich neue Möglichkeiten qualitativer Auswertung durch die diagrammatischen Text-Bild-Verbünde (Krämer 2016) der Benutzeroberflächen einer Annotationssoftware wie
Piecemaker und des
Motion Bank Systems ab. Sie beruhen auch auf quantitativen Verfahren, bei denen bisher vorranging aus den Metadaten Benutzeransichten mit Visualisierungen zur Betrachtung der Daten abgeleitet werden und somit digital unterstützte qualitative Arbeitsweisen eröffnen. Zukünftig soll das
Motion Bank System die Möglichkeit bieten individuelle, kontextspezifisch Vokabularien anzulegen, um diese bei der Annotation mit
Piecemaker anwenden zu können. Während sich die Diskussionen rund um die Erstellung solcher Vokabularien im Praxisfeld des Zeitgenössischen Tanzes und der Tanzausbildung bereits als fruchtbar
erweisen, ist noch offen, ob und inwiefern sie sich für tanzwissenschaftliche quantitative Methoden eignen oder ob sie in erster Linie dazu dienen können, umfangreiche Inhalte in der Software – im Zuge einer vorrangig qualitativen Auswertung – besser zu filtern, zu strukturieren und zu sortieren.

https://synchronousobjects.osu.edu/, zuletzt aufgerufen am 23.09.2018.

http://www.motionbank.org/, zuletzt aufgerufen am 23.09.2018.

http://scores.motionbank.org/, zuletzt aufgerufen am 23.09.2018.

https://medium.com/motion-bank/motion-bank-at-hochschule-mainz-c89ef4a61643, zuletzt aufgerufen am 23.09.2018.

https://www.w3.org/TR/annotation-model/, zuletzt aufgerufen am 23.09.2018.

https://medium.com/motion-bank/developing-vocabularies-for-dance-education-e4c4584950a8, zuletzt aufgerufen am 08.01.2019.

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Conference Info

Incomplete

DHd - 2019
"multimedial & multimodal"

Hosted at Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Johannes Gutenberg University of Mainz), Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main (Goethe University of Frankfurt)

Frankfurt & Mainz, Germany

March 25, 2019 - March 29, 2019

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Conference website: https://dhd2019.org/

Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

Series: DHd (6)

Organizers: DHd