Lehrstuhl für Digital Humanities, Universität Passau
Thematik und Ziel
„Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster“, wusste Francisco de Goya. Ein
Schlaf der Quellenkritik auch. Deshalb ist eine dem Digitalen angepasste, auf Daten erweiterte quellenkrititische Methodik üblich in den Digital Humanities und verwandten Fächern. Akzeptanz für eine kontextuell orientierte Quellenkritik im Digitalen ist auch im erweiterten Diskurs detektierbar, wenn auf einer abstrakteren Ebene für kulturkritische Perspektiven mit verstärkt ganzheitlichen Sichtweisen plädiert wird (Liu 2012, Presner 2015). In diesem Zusammenhang steht das Ziel des Vortrags, der sich in zwei Blöcke gliedert: Einer Analyse von Quellenspezifika im Digitalen folgt, vergleichend und übertragend, die Skizze eines digital-quellenkritischen Leitfadens, der Kriterien der
exakt historischen Methode auf Born Digital spiegelt. Damit nimmt das transdisziplinäre Experiment methodisch Anleihe an der volkskundlichen
Münchner Schule, die wiederum auf “Klassiker” der Quellenkritik zurückgreift, etwa Johann Gustav Droysen. Diese dezidiert
historische Sichtweise wird eingenommen, da auch digitale Quellen historisch bedingt sind und ihre Deutung - im Sinne einer Ganzheitlichkeit - dem Rechnung tragen sollte. Es erscheint sinnvoll, eine Systematik anzuwenden, die hilft, Kontexte entsprechend zu identifizieren und transparent in hermeneutische Prozesse miteinzubeziehen.
Stand
Die historische Dimension des Digitalen (das Internet: Brügger 2017; Born Digital, Webseiten: z. B. Nanni 2017; Twitter: Sternfeld 2014) ist ebenso Gegenstand in den Digital Humanities wie die kulturwissenschaftliche (Klawitter et al 2012). Quellenkritikim Digitalenpräzisieren Handbücher(Crompton et al 2016; Griffin, Hayler 2016), Angebote wie „compas. Strukturiertes Forschen im Web“ (infoclio.ch, Baumann/Hügi 2017) führen niederschwellig ein in„Quellenkritik bei Quellen aus dem Internet“. Zwei Beiträge seien hier herausgestellt: Eva Pfanzelter (2010)vergleicht explizit historische Quellenkritik („innere/äußere Kritik“, Pfanzelter 2010: 43) mit Quellenkritik im Digitalen und beleuchtet den daraus notwendig resultierenden „kritischen Umgang mit digitalen Ressourcen“. Peter Haber Peter Haber (2011)rekurriert in „Digital Past“ explizit auf Droysens Methodik.
Spezifika
Vorangestellt sei ein Diktum von Alan Liu,
„(…) the virtual is indeed fully material“ (Liu 2014: 276). Dem wird zugestimmt
und aufgezeigt, dass das Ungreifbare Folgen hat für die Einordnung von Inhalt und Kontext: Digitale Quellen weisen spezifische Eigenschaften auf, die sich auf Autorschaft, Stoffliches und Zeitliches beziehen. Diese Kriterien werden anhand digitaler Quellenarten herausgearbeitet und in Bezug auf kritische Methodik betrachtet, um dann die methodische Übertragung zu zeichnen.
Daten und Autorschaft
Konventionell bezieht sich Autorschaft im Digitalen auf sekundäre oder primäre Quellen, bei denen Publizierende konservativ verzeichnet sind, sowie auf Schwarmprodukte mit fließenden Autorschaften, Schichtungen und Intentionen, deren Identifikation synoptische Auswertungsprozesse verlangt.
Da Autorschaft und Intentionalität als kritisches Moment eng hängen zusammenhängen, ist die Frage der Autorschaft im gegebenen Kontext zu erweitern auf Daten: Datenkritik. Das „Ethos der Statistik“, das sich auf Erfassungsparameter und Algorithmen genauso wie auf Fragestellungen und Operationalisierungen bezieht, ist im quellenkritischen Sinn zu erweitern auf hermeneutische Interpretationen. Am Beispiel von Malte Rehbeins (2017) Kritik des Projekts
Charting Culture wird der Wert dieser kritischen Verschränkung deutlich.
Digitalisat und Stofflichkeit
Digitalisate bedürfen als vom Analogen ins Digitale transformierte Quellen besonderer Kritik, sowohl bezüglich des Objekts als auch der Metadaten. Im Analogen bildet die Dualität von Medium und Text Information aus, bei Daten als Träger von Information fallen Medium und Botschaft im McLuhanschen Sinne zusammen. Deshalb wohnt digitalen Repräsentationen immer ein Informationsverlust inne, dem Erfassung und Modellierung lediglich entgegenwirken. So teilt ein digitales Faksimile mehr über die
kritische Physis der analogen Quelle mit (z. B. Alterung) als es die Homogenität eines OCR-prozessierten Textes vermag (immanente Schriftinformationen).
Born Digital und Zeitlichkeit
Born Digital hat keine Rückbindung an Greifbares und ist selbst potentiell ungreifbar. Ihrem Wesen nach sind diese Quellen fluid: Zum einen unterliegen sie ständigen Alternierungsprozessen, die der Rezipient bestenfalls passiv zur Kenntnis nehmen kann. Folgen für das Erfassen und Tradieren, die Domäne der Webarchivierung, sind Selektion, motiviert durch permanente „Vervielfältigung“ der sich im Turnus oder unregelmäßig verändernden Quellen, daraus resultierende Lücken sowie Probleme bei Datenspeicherung bzw. -vorhaltung. Zum anderen oszilliert Born Digital zwischen Ewigem Leben (vgl. Recht auf Vergessen) und spontanem Verschwinden. Diese Eigenschaften haben in Summe Konsequenzen für Korpusvalidität, Datierungen bzw. Ordnungen (Zeugenschaften), die Kritik von Inhalten sowie für die potentielle geschichtliche Dimension der Quellenart als solcher. Aufgrund der besonderen Bedeutung als „Quelle der Zukunft“ und ihrer komplexen Beschaffenheit stellt Born Digital eine besondere Herausforderung dar.
Methode
Das präzise Sondieren dynamischer kulturhistorischer Phänomene ist sowohl den Digital Humanities als auch der Volkskunde eigen, in der der hier diskutierte methodische Bezugspunkt Mitte der 1950er Jahre gesetzt wurde. Hans Moser und Karl-Sigismund Kramer initiierten die als
Münchner Schule bezeichnete Perspektive. Sie trug zu einer Neuaufstellung nach der NS-Zeit bei, in der etliche Fach-Akteure die Blut-und-Boden Ideologie mitgestaltet hatten. Anstelle der Suche nach Absolutem im (germanischen) Vergangenem („Ursprungsforschung“) trat die
exakt historische Methode als „exakte Geschichtsschreibung der Volkskultur“ mit definierten Quellen, Räumen und Zeiten.
Damals teils polarisierend, forderte Hermann Bausinger (
Tübinger Schule) zeitnah eine Orientierung am Aktuellen, der „technischen Welt“ – in Kombination führten u. a. diese beiden Ansätze zu einer Art vektorialen Denkens in der Volkskunde: Heutige Phänomene methodisch
historisch zu lesen.
Prozess
Die Historische Quellenkritik staffelt sich zuerst in „äußere“und „innere Kritik“. Der„äußeren Kritik“(vgl. zum Begriff: Pfanzelter 2010: 43) zuzuordnen sind Aspekte der Multimodalität - das Zusammenspiel von Text, Bild, Audiovisuellem, Interaktion - was imFolgenden nicht dezidiert vertieftwird; derBlick geht vielmehr
exakt historisch von Außen nach Innen. Karl-Sigismund Kramer formuliert 1968 modellhaft Kriterien der Quellenkritik, die Übertragung folgt dieser Systematik.
Der Quellenkritik vorgelagert ist eine Material-Kritik zur Unterscheidung „objektiven oder subjektiven Zeugniswerts“ bzw. von „Mischlagen“, was an der individuellen Quelle zu beurteilen ist. Übertragen auf Born Digital, erscheinen komplexere Formen wie Blogs und Foren, die ausgeprägt durch „Mischlagen“ charakterisiert sind, probat: „Objektiv“ bezieht sich auf inhaltlich definierte Themenkomplexe, „subjektiv“ auf eine erste Grobordnung nach Tendenzen.
Es folgen die drei Stufen der Quellenkritik (nach Droysen; vgl.: Haber):
„1. Kritik der Echtheit“; dies verlangt den kritischen Abgleich von Traditionen bezüglich falscher Sachverhalte. Z. B.: Das Erzeugen einer Authentizitäts-Anmutung, die Optimierungsprozessen geschuldet ist und von einem spezialisierten Microtask-Markt mitgetragen wird.
„2. Kritik des Früheren und Späteren“; das Prüfen zeitlicher Schichtung hat bei der Dynamik der gegebenen Quellen zufolge, dasslineare Vergleiche nur anhand systematisch eingehegter Archivierung möglich sind – diese Stufe der Kritik verweist auf die Notwendigkeit einer solchen zur Herstellung der Arbeitsbasis.
„3. Kritik des Richtigen, d. h. die Frage nach dem Grad der Verzeichnung [eines objektiven Verhalts, d. Verf.], die (...) besonders durch subjektive und tendenziöse Verfärbung eingetreten sein kann“; aufbauend auf der bereits erfolgten Material-Kritik werden Themenkomplexe weiter aufgesplittet und granularer „objektiv“ kategorisiert. Dieses Extrapolieren von Konnotationen benötigt eine intermediale, dezidiert historische Lesart.
Auf dieser Basis kann die Interpretation in vier Stufen vorgenommen werden:
„1. Pragmatische Interpretation, d. h. die Herstellung des sachlichen Zusammenhanges innerhalb des Forschungsgegenstandes (ob Einzelerscheinung oder Gesamtaspekt), wie er sich aus dem kritisch geordneten Material ergibt.“ Hier wird Verlinkung im Kontext der Korpusvalidität angesprochen – wie ist „Gesamtheit“ im Terrain von Born Digital bewertbar?
„2. Interpretation der Bedingungen, (…) Umwelteinflüsse im engeren Umkreis der lokalen, wirtschaftlichen, rechtlichen, sozialen, technischen und allgemein geistigen Bedingungen, die auf das Werden der Erscheinung eingewirkt haben und ihre Funktionen bestimmen“. Das Beispiel Fake News verweist auf Fragen, die hier Relevanz haben.
„3. Psychologische Interpretation, d. h. Versuch der schärferen Erkenntnis der seelischen Konstitution der Umwelt, in der die Erscheinung beheimatet ist, und des Willens und der Gefühle der aktiv oder passiv beteiligten Personen und Gruppen.“ Bezugsrahmen für Subjektives, das psychosozial eingeordnet und kontextuell decodiert wird, ist hier Twitter.
„4. Interpretation nach den bewegenden sittlichen und politischen Mächten, (...) überindividuelle und [auf] den engeren Umkreis übergreifenden Impulse, die auf das Volksleben einwirken, es bewegen und gestalten“: Hier erfolgt die kulturkritische Einbettung in größere gesamtgesellschaftliche bzw. gobale Kontexte und theoretische wie empirische Metaperspektiven.
Fazit
Das transdisziplinäre Experiment versteht sich als „synkretistischer“ Versuch, eine tradierte Denkschule auf den Raum des Digitalen zu projizieren. Die Übertragung gibt Impulse für methodische Vertiefungen (konzeptionelle Verdichtung, Use Cases) und für Adaptionen in der Lehre (geisteswissenschaftliche Grundlagen und Analytik, Kritikfähigkeit).
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Cologne, Germany
Feb. 26, 2018 - March 2, 2018
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Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.
Series: DHd (5)
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