Horizontales Lesen: Das "Verdi-Requiem" und die deutsche Kritik

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Authorship
  1. 1. Torsten Roeder

    Institut für Dokumentologie und Editorik e.V.; Universität Würzburg

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1. Thema
Dieser Beitrag stellt anhand eines konkreten Fallbeispiels eine Methode zur inhaltlichen Analyse von heterogenen Textkorpora vor. Das Verfahren entstand im Rahmen einer Dissertation im Fach Musikwissenschaft und operiert einerseits mit X‑Technologien, andererseits bezieht es geisteswissenschaftliche Ansätze mit ein. Der Bezug zum Tagungsthema besteht vor allem in dem Unterfangen, eine Brücke zwischen digitalem Material und hermeneutischen Analyseansätzen zu schlagen.
Das Vorhaben befasste sich mit der
Messa da Requiem des italienischen Komponisten Giuseppe Verdi (1813–1901). Dieses geistliche Werk für Chor, großes Orchester und vier Solisten stellt eine Ausnahme in dem Schaffen des Opernkomponisten dar. Gewidmet ist es dem italienischen Schriftsteller Alessandro Manzoni, der ein Zeitgenosse und Freund Verdis war (vgl. Schweikert 2013) und 1873 verstarb. Das deshalb so genannte "Manzoni-Requiem" verbreitete sich schnell und mit großem Erfolg in ganz Europa, vor allem in Frankreich, Österreich und (kurze Zeit später) auch im Deutschen Reich.

Der Fokus der Analyse liegt auf der deutschsprachigen Musikkritik im Zeitraum der Erstaufführungen (1874–1878). Mit Hinweis auf den oft emotionalen und bildhaften Charakter der Musik wurde das Werk vor allem im Deutschen Reich abschätzig beurteilt: Ein Kritiker aus Köln meinte beispielsweise, das Werk sei "kein Requiem nach deutscher Art" (August Guckeisen, Kölnische Zeitung, 12.12.1875). Diese dichotomische Abgrenzung einer "deutschen Art" gegen eine "italienische Art" ist nicht nur als Reflex von Wagnerismus und reichsdeutschem Kulturkampf zu interpretieren, sondern auch im Kontext romantischer Kirchenmusikästhetik und des zeitgenössischen Realismusbegriffs zu verstehen (vgl. Kirsch 2013). Darüber hinaus regten sich aber gerade auch in Österreich solche Stimmen, die dem geforderten "deutschen Ernst" nur wenig abgewinnen konnten und für mehr Emotionalität in der geistlichen Musik plädierten. Auch gegenwärtig führt die Ambivalenz des Werkes, das zwischen spiritueller und szenischer Musik changiert, immer wieder zu Diskussionen hinsichtlich der "richtigen" Interpretation. Das Nachdenken über historische Auffassungen und Begriffsbildungen gibt uns die Möglichkeit, unsere aktuellen Positionen und deren Ursprünge zu hinterfragen. Dies bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung.

2. Material
Für die Grundlage der Analyse wurden Artikel aus Tageszeitungen und Musikfachblättern aus den Jahren 1874–1878 zu einem Textkorpus zusammengestellt. Auswahlkriterien waren erstens eine Erwähnung der
Messa da Requiem und zweitens die Sprache Deutsch. Durch diese Offenheit entstand ein Korpus aus Texten, die hinsichtlich des Umfangs, der Gattung und der inhaltlichen Qualität stark variieren: Die Textsorten decken ein Spektrum von lapidaren Konzertanzeigen bis hin zu seitenlangen Werkbesprechungen mit zahlreichen Notenbeispielen ab. Für die Forschungsarbeit erfüllen die Texte unterschiedliche Zwecke: Die knapperen Texte beschränken sich meist auf Hinweise zu Aufführungen, Mitwirkenden oder Veranstaltungsorten und dienten deshalb vorrangig der Rekonstruktion einer Aufführungsgeschichte. Dabei gaben präzise Datumsangaben oft einen Anhaltspunkt für die Recherche nach ausführlicheren Quellen in lokalen Tageszeitungen. Für die Untersuchung der Rezeptionsgeschichte sind die längeren Texte weitaus interessanter und ergiebiger. Dabei bestand eine Herausforderung darin, dass sehr häufig (in ca. 70% der Fälle) nichts über den Hintergrund des Autors bekannt ist, so dass der Entstehungskontext bei der Analyse nicht einbezogen werden konnte. Bisherige Analysen berücksichtigten deshalb vor allem namhafte Autoren, deren (wie beispielsweise Eduard Hanslick, Heinrich Adolf Köstlin und Emil Naumann; vgl. z. B. Kreuzer 2005). Digitale Auswertungsverfahren sollten nun dabei helfen, auch die Äußerungen unbekannter Autoren in einem breiteren Spektrum einordnen und bewerten zu können.

Die Texte wurden dazu nach Digitalisaten oder Fotokopien (20% der Fälle) transkribiert und die daraus resultierenden 950.000 Zeichen Reintext mit TEI-Markup versehen. Dabei wurde der Schwerpunkt, im Sinne von "smart data" (vgl. Schöch 2013), auf die Erschließung semantischer Einheiten gelegt. Dazu wurde ein halbautomatisches Verfahren eingesetzt, das mit Listen von bereits bekannten Eigennamen operierte. Das automatische Tagging wurde auf Richtigkeit überprüft und Sonderfälle (z.B. Pseudonyme oder Abkürzungen) manuell verzeichnet. Im Korpus konnten insgesamt 8.000 Entitäten identifiziert und mit Normdaten versehen werden. Die vier Register beinhalten 530 Personen, 142 Aufführungen, 96 Ortschaften und 135 Werke der Musik.

3. Auswertung

3.1. Metadaten
Die Analyse der Metadaten mithilfe geographischer und einfacher statistischer Visualisierungstools (z. B. OpenLayers/MapWarper und Google Chart API) gab Aufschluss über die geographische und chronologische Verteilung der Texte. Die Presseresonanz ist in den Monaten der Erstaufführungen an den jeweiligen Orten wie erwartet am stärksten. Dabei fiel auf, dass die Verteilung im Deutschen Reich großflächiger ist als in dem stark auf Wien zentrierten Österreich (vgl. Abbildung 1). Die Anzahl der Berichte an einem Ort ist in Österreich durchschnittlich höher als im Deutschen Reich, da dort durch das Digitalisierungsprojekt ANNO erheblich mehr Periodika digitalisiert wurden und relevante Texte durch Suche im OCR-Volltext viel leichter aufzufinden sind als in realen Zeitungsbänden. Im Deutschen Reich überwiegt deshalb auch der Anteil an Texten aus den bereits umfassend digitalisierten Musikfachzeitschriften (vor allem aus Leipzig) um so mehr.

(Abbildung 1: Übersicht aller Spielorte, die im deutschsprachigen Raum erwähnt wurden)

3.2. Textanalyse
Die Textanalyse knüpfte zunächst an mehrere Vorarbeiten zur Dichotomieanalyse und Rezeptionsgeschichte an (vgl. Sponheuer 2001) und entwickelte diese anhand des digitalen Materials weiter. Es wurde das Experiment unternommen, mithilfe eines vorgefertigten Sachvokabulars die relevanten Diskurskategorien zu erschließen und dichotomische Muster zu identifizieren. Dies musste im Rahmen des damaligen Vorhabens verworfen werden, da es in vielen Einzelfällen zu einer deutlichen Verzerrung der Textbedeutung kam, die durch den relativ geringen Umfang des Textkorpus leider nicht ausgeglichen werden konnte.
Deshalb wurde der Fokus in einem zweiten Versuch auf die "Named Entities" gesetzt, also die bereits durch das Tagging identifizierten sachlichen Einheiten. Eine solche Einheit konnte beispielsweise ein Werkteil wie das "Kyrie" oder das "Agnus Dei" sein, zu dem dann aus allen Texten die unmittelbaren Kontexte ausgezogen und zu einem Spektrum zusammengestellt wurden. Die Kontexte zur stark umstrittenen Nummer "Mors stupebit" aus dem zweiten Teil des Werkes zeigen sowohl eine grundsätzliche Ablehnung und eine starke Grenzziehung zwischen "nordischen" und "italienischen" Stereotypen auf.

(Abbildung 2: Kontexte für "Mors stupebit")

Aus geisteswissenschaftlicher Perspektive genügt bereits diese Aufstellung, die ich hier "semantische Sichtachse" nennen möchte, um ein Spektrum von unterschiedlichen Positionen aufzuzeigen, in das auch die Haltungen der nicht näher bekannten Autoren mit einfließen. Vergleicht man die hier gezeigte Sichtachse zum "Mors stupebit" mit der Sichtachse des fast überall bewunderten "Agnus Dei", kommt ein Kontrast zwischen einer idealisierenden und einer realistischen Repräsentation des Todes deutlich zum Vorschein. Weitere aufschlussreiche Sichtachsen können beispielsweise zu Vergleichswerken (etwa die Requiem-Kompositionen von Mozart oder Cherubini), Komponistennamen (im Sinne einer stilistischen Referenz) und auch zu Schlagwörtern wie z. B. "Realismus" erzeugt werden.
Der Zweck dieses Verfahrens ist es also, mithilfe der Textdatenbank vergleichbare Kontexte innerhalb des Korpus zu finden und diese gegenüberzustellen. Die komparative Analyse der Einzelkontexte eröffnet die Möglichkeit, übergreifende Rezeptionsmuster zu identifizieren. Ich bezeichne das hier rein metaphorisch als "horizontales Lesen" (in vager Anlehnung an den Begriff des "distant reading", vgl. Moretti 2016), da es die Texte gleichwertig nebeneinander anordnet und weniger den einzelnen Text, sondern mehr gemeinsame Bezugspunkte im gesamten Korpus betrachtet. Auf der Grundlage dieser vergleichbaren Extrakte könnte übrigens der erste, zunächst verworfene Ansatz wieder ins Spiel kommen – dies ist jedoch Zukunftsmusik.
Ich füge noch einige Ergebnisse aus musikwissenschaftlicher Sicht an: Beispielsweise wurde das sehr beliebte "Agnus Dei", welches in über 60 Texten erwähnt wurde, auffallend oft als Abklatsch verschiedener Opernnummern gedeutet, um die schöpferische Qualität herabzusetzen. Hinsichtlich des Fugenstils im "Sanctus" verhielten sich die Berliner und Dresdner Kritiker auffallend empfindlich, während die Kritiker in Wien und auch in Köln in dieser Hinsicht liberaler waren. Eine ähnliche Aufteilung ist auch hinsichtlich des Einsatzes von musikalischen Effekten und Affekten festzustellen. Dabei wurden sowohl allgemeine Unterschiede zwischen dem Deutschen Reich und Österreich sowie dem katholischen und dem protestantischen Raum deutlich. Hinzu treten mehrere lokale Besonderheiten: So kam am Hamburger Stadt-Theater ein Bühnenbild zum Einsatz, welches das Innere einer katholischen Kirche zeigte, was die Hamburger Kritik durchaus faszinierte. In Salzburg schlossen sich mehrere Musikvereine zusammen, um das Werk für einen karitativen Zweck aufzuführen, weshalb die Kritik wohlwollender war als andernorts.
Die insgesamt sehr unterschiedlichen Kritiken können deshalb erst aus den jeweiligen Kontexten heraus angemessen bewertet werden. Durch einen flächendeckenden Vergleich ist es möglich, allgemeine Tendenzen der Rezeption zu identifizieren und zu verorten, auch wenn die individuellen Hintergründe der Autoren nicht immer bekannt sind. Die Texte von unbekannten Autoren sind auf diese Weise leichter zu kontextualisieren, zu bewerten und in das Gesamtbild einzuordnen.

4. Ausblick
Das Textmaterial ist für das ursprüngliche musikwissenschaftliche Vorhaben zunächst ausgeschöpft, bietet aber Potenzial für weitere Analysen mit anderen Methoden. Wärenbeispielsweise positive und negative Kritiken mithilfe stilometrischer Verfahren voneinander unterscheidbar? Geben Netzwerkvisualisierungen von Vergleichswerken in den Texten möglicherweise einen Hinweis auf Strukturen kanonischer Bezugssysteme? Deckt sich dies mit den bisherigen Beobachtungen? Wäre es für die Präsentation denkbar, eine in MEI kodierte Partitur takt- oder abschnittsweise mit den diversen Kommentaren der Kritiker zu versehen? Es ist zu hoffen, dass in Zukunft ähnliche Projekte entstehen, um das digital aufbereitete Datenmaterial für weitere Forschung nutzen können – etwa mit dem Fokus auf der Rezeption des Werkes in anderen Sprachgebieten oder Zeiträumen, oder auch auf anderen Requiem-Vertonungen. Zu diesem Zweck wird das Material digital publiziert, offen lizenziert sowie in Hackathons und THATcamps eingebracht. Die Publikationsplattform wird zum Konferenztermin bekanntgegeben.

Bibliographie

Kirsch, Winfried (2013): "Kirchenmusikreform, Cäcilianismus und Palestrina-Renaissance", in: Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher (eds.):
Geschichte der Kirchenmusik, Bd. 3, Laaber: Laaber 56–71.

Kreuzer, Gundula (2005): "Oper im Kirchengewande"? Verdi’s Requiem and the Anxieties of the Young German Empire, in: Journal of the American Musicological Society 58,2: 399–450.

Moretti, Franco (2016):
Distant Reading, Konstanz: Konstanz University Press.

Schöch, Christof (2013): "Big? Smart? Clean? Messy? Data in the Humanities", in:
Journal of Digital Humanities 2, No. 3: 2–13.

Schweikert, Uwe (2013): Messa da Requiem, in: Anselm Gerhard and Uwe Schweikert (eds.):
Verdi-Handbuch, Kassel: Bärenreiter; Stuttgart/Weimar: Metzler (2., überarb. und erw. Auflage) 557–565.

Sponheuer, Bernd (2001): "Über das ›Deutsche‹ in der Musik. Versuch einer idealtypischen Rekonstruktion", in: Hermann Danuser / Herfried Münkler (eds.):
Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik, Schliengen: Edition Argus 123–150.

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DHd - 2018
"Kritik der digitalen vernunft"

Cologne, Germany

Feb. 26, 2018 - March 2, 2018

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Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

Series: DHd (5)

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