Positivistischer Methodenfetischismus als Anathema der digitalen Geisteswissenschaften

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Authorship
  1. 1. Eckhart Arnold

    Bayerische Akademie der Wissenschaften (Bavarian Academy of Sciences and Humanities)

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Entsprechend dem Thema der diesjährigen DhD-Konferenz "Kritik der digitalen Vernunft" möchte ich mich in meinem Vortrag der Kritik fehlgeleiteter digitaler Geisteswissenschaften widmen, und dazu erstens anhand von Beispielen zeigen, wie sich fehlgeleiteter Technikeinsatz in den Geistes- und Sozialwissenschaften darstellt und zweitens Kriterien dafür vorschlagen, nach denen beurteilt werden kann, wann der der Technikeinsatz in den Geistes- und Sozialwissenschaften sinnvoll und wann fehlgeleitet ist. Das dient - so hoffe ich - der besseren Aufklärung unseres digital untersützten Erkenntnisvermögens über sich selbst.
Es steht außer Frage, dass Computer nützliche Werkzeuge sind, und dass man digitale Methoden in den Geisteswissenschaften auf vielfache Weise gewinnbringend einsetzen kann. Dabei wäre es aber eine Fehleinschätzung zu glauben, dass die Digitaltechnik für die Geisteswissenschaften lediglich ein Hilfsmittel darstellt, die uns erlaubt, bestimmte Forschugsaufgaben in den Geisteswissenschaften schneller und besser zu erledigen, die Ergebnisse leichter zu verbreiten etc. Vielmehr ändert der massive Einsatz von Digitaltechnik auch den Charakter der Wissenschaften: Neue Themenfelder werden erschlossen, andere Fragestellungen als relevant empfunden, andere Verfahrensweisen als mustergültig oder auch nicht (mehr) akzeptabel empfunden und andere Fertigkeiten und Kenntnisse von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erwartet.
Diese Veränderungen können durchaus an den Identitätskern dessen rühren, was ein geistes- oder gesellschaftswissenschaftliches Fach bisher ausgemacht hat. Das allein bedeutet noch nicht, dass diese Veränderungen schlecht sind, denn dass wissenschaftliche Fächer und ihre Untersuchungsgegenstände einem historischem Wandel unterliegen ist unvermeidlich. Es wirft aber die Frage auf, wann der Einsatz bestimmter technischer Mittel und die dadurch herbeigeführten Veränderungen legitim und zum Nutzen der Wissenschaft sind und wann zum Schaden der Wissenschaft, so dass man besser Abstand davon nehmen sollte.
Auf einer höheren Ebene schließt sich daran die weitergehende Frage an, nach welchen Kriterien dies beurteilt werden kann. Eine offensichtlich unzureichende Antwort ist die, dass der Einsatz technischer Mittel dann legitim ist, wenn er es erlaubt, irgendwelche (bestehenden) wissenschaftlichen Probleme besser zu lösen, denn diese Antwort lässt die Frage unbeantwortet, wie technische Mittel zu beurteilen sind, die vor allem neue Problemfelder erschließen, nicht alte Probleme besser lösen.

Unzureichend wäre es aber auch, den Einsatz technischer Mittel in den Geisteswissenschaften auf jeden Fall gut zu heißen, wenn dadurch bekannte Probleme besser gelöst werden oder neue Problemfelder erschlossen werden. Diese - nur oberflächlich plausible – Antwort ignoriert nämlich, dass die Problemauswahl wertgesteuert erfolgt, und sie verkennt zudem, wie wissenschaftliche Verdrängungsprozesse realiter ablaufen. Sie öffnet darüber hinaus einem positivistischen Methodenfetischismus Tür und Tor, der - grob gesprochen – darin besteht, dass die Methode zum Kriterium der Relevanz erhoben wird und die Phänomene nicht mehr (oder nur noch durch den Blickwinkel einer bestimmten Methode) zur Kenntnis genommen werden.
Am Beispiel der analytischen Philosophie, (und konkret dem Einsatz spieltheoretischer Modelle in der Analystischen Philosophie), möchte ich vor Augen führen, wie Verdrängungsprozesse zwischen wissenschaftlichen Schulen ablaufen. Solche strategischen Verdrängsprozesse, die man in Abgrenzung zum natürlichen Paradigmenwechsel als "imperialistisch" bezeichnen kann, leisten natürlich nicht nur besonders technische Ansätze, aber mit technischen Ansätzen funktioniert das aus verschiedenen Gründen besonders gut. Die typischen Etappen eines wissenschaftlichen Verdrängungsprozesses sind diese:

Zunächst wird eine neue wissenschaftliche Methode propagiert, in diesem Fall die Spieltheorie, mit der man angeblich sozialphilosophische Probleme wissenschaftliche viel genauer (nämlich mit mathematischer Präzision) behandeln kann als das zuvor der Fall war.

Anfangs funktioniert das noch nicht besonders gut. Aber jede wissenschaftliche Methode muss sich ja erst einmal die Chance bekommen, sich zu entwickeln. Speziell bei technischen Ansätzen erweist sich der anscheinend unbezwingbare Mythos des Vorsprungs durch Technik als sehr hilfreich für "die Sache". Zudem tun sich Kritiker aus dem Fach schwer einen Ansatz anzugreifen, dessen hochtechnische Einzelheiten sie nicht begreifen, selbst wenn sie die Dürftigkeit der Ergebnisse nicht übersehen können.

Der entscheidende Durchsetzungstrick besteht nun darin, dass - anders als die oben beschriebene zweite Antwort stillschweigend unterstellt - ein fairer Vergleich mit den früheren Ansätzen hinsichtlich der vermeintlich überlegenen Problemlösungskapazität gar nicht mehr stattfindet. Hat die neue wissenschaftliche Schule erst einmal eine kritische Masse erreicht (d.h. haben genug Leute siche ihr angeschlossen, um eigene Fachzeitschriften herauszugeben, die Gutachten dazu beizusteuern, und schließlich auch die Besetzung von Professuren entscheidend zu beeinflussen), dann braucht sie sich dem Wettbewerb mit dem Verlierer entweder gar nicht mehr zu stellen, oder sie kann die Regeln bestimmten, nach denen er geführt wird. (Im Fall der analytischen Philosophie wird dazu die Verlierposition gerne für unwissenschaftlich, sprachlich unklar oder frei von Argumenten eklärt, was viel bequemer ist als die Argumente zu kritisieren.)

Der wesentliche Unterschied zwischen einem legitimen Paraidgmenwechsel - wie von Kuhn beschrieben - und einem imperialistischen Durchsetzungsprozess besteht darin, dass im letzteren Fall die Vergrößerung der Problemlösungskapazität (ein wesentliches Merkmal des Kuhn'schen "Paradigmenwechsels", der ansonsten auch teilweise irrational verläuft) nur scheinbar stattgefunden hat. Der Prozess ist dann vollendet, wenn eine neue Generation von Wissenschaftlern erzogen worden ist, die mit dem erfolgreich verdrängten Ansatz gar nicht mehr in Berührung gekommen sind und daher den relativ defizitären Charakter der Verdränger-Schule auch nicht bemerken können.

Speziell im Fall der Spieltheorie in der Sozialphilosophie ist zu beobachten, dass:

a) der Kontakt zur Empirie, insbesondere der Feldforschung verloren gegangen (oder nie recht hergestellt worden) ist. M.a.W.: Die Phänomene werden nicht mehr zur Kenntnis genommen (das zweite Hauptmerkmal des positivistischen Methodenfetischismus).
b) die Ergebnisse purer Modellstudien, insbesondere von sehr leicht anzufertigenden Computersimulationen ohne empirischen Bezug als publikationswürdig angesehen werden. M.a.W.: Die Methode wird zum Kriterium der Relevanz gemacht (das erste Hauptmerkmal des positivitischen Methodenfetischismus).

Der Vorgang gleicht einer Gehirnamputation, gegen die sich der Patient zunächst vielleicht sträubt. Ist sie aber erst einmal vollzogen, so ist er gerade auf Grund dieser Operation gar nicht mehr in der Lage zu registrieren, dass irgendetwas vorgefallen ist. (An dieser Stelle kann man natürlich fragen, wie man denn dann solche Verdrängungsprozesse überhaupt als solche identifizieren und kritisieren kann, wenn es doch die Fachleute selbst am Ende nicht mehr können? Man kann, wenn man bereit ist, sich der Mühe zu unterziehen, die historische ältere verdrängte mit der historisch neueren verdrängenden Position unvoreingenommen zu vergleichen. Das setzt allerdings historische Bildung oder zumindest die Befähigung dazu voraus.)
Inwiefern betrifft dies nun die digitalen Geisteswissenschaften? Bestimmte Bereiche der digitalen Geisteswissenschaften – vornehmlich solche, wo der Computer tatsächlich vor allem Hilfsmittel ist, wie z.B. beim elektronischen Publizieren oder beim transkribieren und editieren - sind davon nicht betroffen. Aber es gibt andere Bereiche, wo der Technik-Einsatz in den digitalen Geisteswissenschaften viel tiefer in den Prozess des Verstehens- und Erklärens eingreift. Sofern man die auf die Geisteswissenschaften angewandte Spieltheorie nicht als digitale Geisteswissenschaften gelten lassen will (warum wird sie eigentlich nicht dazu gezählt?), dann könnte man hier das Distant-Reading oder auch die Netzwerkanalysen in der Literaturwissenschaft anführen (was nicht heisst, dass diese noch jungen Ansätze sich schon so sehr verrant haben, wie die analytische Philosophie mit der Spieltheorie).
Wenn man bereit ist zuzugestehen, dass der Technik-Einsatz in der beschriebenen Weise schief gehen kann - ähnlich wie eine Revolution ja auch auf die Weise scheitern kann, dass sie zwar die Herrscher erfolgreich beseitigt, dann aber noch schlimmere an ihre Stelle setzt - dann bleibt immer noch die Frage anhand welcher Kriterien man den legitimen und sinnvollen Technikeinsatz von einem fehlgeleiteten unterscheiden kann. Diese Frage ist deshalb nicht pauschal zu beantworten, weil ihre Antwort von dem Fachgebiet, der konkreten Technologie und - wie oben angedeutet - auch von Relevanzfragen d.h. Fragen denach abhängt, was ein legitimes und wichtiges Problem in einem Wissenschaftsfach ausmacht. Relevanzfragen sind aber immer auch Wertfragen und können so gesehen vielleicht gar nicht objektiv entschieden werden.

Dennoch kann man womöglich Faustregeln dafür aufstellen:

Aus welchen Gründen auch immer eine bestimmte wissenschaftliche Problemstellung als relevant erachtet wird, es sollte nicht bloß aus dem Grund sein, dass sie die Verwendung einer interessanten Technologie erlaubt. Das klingt trivial, ist es in der Praxis aber nicht immer, besonders dann nicht, wenn der Technikeinsatz mit Forschungsgeldern prämiert wird. Eine zuzugestehende Ausnahme sind Forschungsprojekte, die rein der Methodenentwicklung dienen.
Technik ist in den Geisteswissenschaften nicht das Wesentliche. Wenn sie die Arbeit nicht einfacher macht oder ihr Einsatz nicht zu einem Surplus an Erkenntnis führt, der den Aufwand rechtfertigt, dann ist sie Fehl am Platze. (Auch trivial, aber nicht immer wird die Rechnung aufgemacht.)

Bibliographie
Beispiele methodenfixierter Forschung in der analytischen Philosophie und Spieltheorie:

Brian Skyrms: The Stag Hunt and the Evolution of Social Structure, Cambridge University Press 2004.

Rudolf Schüssler: Kooperation unter Egoisten: Vier Dilemmata, Scientia Nova Oldenbourg 1998.

Zur Kritik der methodenfixierter, "scientistischer" Ansätze in der analytischen Philosophie und in den Sozialwissenschaften:

John Dupré: Human Nature and the Limits of Science, Clarendon Press 2002.

Ian Shapiro: The Flight from Reality in the Human Sciences, Princeton University Press 2009.

Eckhart Arnold: How Models Fail. A Critical Look at the History of Computer Simulations of the Evolution of Cooperation, in: Catrin Misselhorn (Ed.): Collective Agency and Cooperation in Natural and Artificial Systems, Springer 2015, p. 261-279,

James Urmson: Philosophical Analysis, Clarendon Press 1960. (
Ein Klassiker!)

Zu möglichen Beispielen und Kritik im Bereich Digital Humanities

Alan Kirkness: Es leben die Riesenschildkröten! Plädoyer für die wissenschaftlich-historische Lexikographie des Deutschen, Lexicographia 32, 2017, S. 17-137. (
bezieht sich kritisch auf

https://www.dwds.de
)

David M. Berry / Anders Fagerjord: Digital Humanities. Knowledge and Critique in a Digital Age, polity press 2017. (
kritisiert im 4. Kapitel die unreflektierte Verwendung von Visualisierungen am Beispiel von:
)

Zu Paradigmenwechseln und "wissenschaftlichem Imperialismus"

Thomas S. Kuhn: The Essential Tension. Selected Studies in Scientific Tradition and Change, University of Chicago Press, 1977.

Uskali Mäki / Adrian Walsh / Manuela Fernández Pinto: Scientific Imperialism: Exploring the Boundaries of Interdisciplinarity, Routledge 2017.

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In review

DHd - 2018
"Kritik der digitalen vernunft"

Cologne, Germany

Feb. 26, 2018 - March 2, 2018

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Conference website: https://dhd2018.uni-koeln.de/

Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

Series: DHd (5)

Organizers: DHd