Menschen und Monumente im Fokus. Semantische Modellierung im Baedeker Corpus

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Authorship
  1. 1. Ulrike Czeitschner

    Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH) - OEAW Österreichische Akademie der Wissenschaften / Austrian Academy of Sciences

Work text
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Forschungskontext
Im Rahmen des Projekts „travel!digital“
1 wird erstmals der Versuch unternommen, die vielfältige Terminologie in historischen Reiseführern systematisch zu erschließen. Der Fokus auf
Menschen und
Monumente stellt zwei dominante semantische Felder in den Mittelpunkt, die sowohl Schlüsselelemente der Textsorte Reiseführer als auch wesentliche Komponenten kultureller Narrative darstellen. Damit sind Reiseführer keineswegs bloße historische Quellen, sondern vielmehr als bedeutende diskurshistorische Artefakte
2 zu betrachten. Zudem eignet sich das in ihnen enthaltene enzyklopädische Wissen in besonderem Maße für die Datenmodellierung. Vor diesem Hintergrund erstaunt das Fehlen systematischer diachroner Forschung auf diesem Gebiet mindestens genauso wie der eklatante Mangel an digitalen Ressourcen, die für historische Untersuchungen geeignet wären.
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Mit dem Baedeker Corpus, einer digitalen Sammlung
deutschsprachiger Reiseführer aus dem Zeitraum 1875–1914, zielt das Projekt
nicht nur darauf ab, wertvolles kulturelles Erbe mit den Methoden der Digital Humanities nachhaltig und langfristig
sicherzustellen, sondern besonders darauf, semantische Technologien verstärkt
zur Erforschung des deutschsprachigen Repertoires kultureller Diskurse an der
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einzusetzen. Als „komplexe Intertexte“ (vgl.
Wierlacher 1997; Koshar 2000), die dominante Diskurse (re)produzieren bzw.
(re)konstruieren, stellen Reiseführer „kodifizierte und autorisierte Versionen
lokaler Kultur und Geschichte“ dar (vgl. Jaworski / Pritchard 2005). Die in den
Reiseführern transportierten zeitgenössischen Lesarten zu Tourismus und
kulturellem Erbe sowie Orientalismus und kolonialem Diskurs sind kultur- und
diskurshistorisch von besonderem Interesse. Darüber hinaus lassen sich
strukturell, linguistisch und insbesondere semantisch erschlossene digitale
Reiseführer im Rahmen vergleichender literaturwissenschaftlicher Forschung, der
historischen Lexikographie und Linguistik, der historischen Geographie und
Kulturanthropologie nutzen.
Das vorliegende Korpus vereint alle Erstauflagen zu
außereuropäischen Reisezielen aus dem Hause Baedeker, die vor der Zäsur des
Ersten Weltkriegs erschienen sind. Es umfasst mehr als 1,5 Mio. running words und deckt eine Vielzahl an Regionen ab.
4 Mit Blick auf differenzierte Analysemöglichkeiten stehen neben der
linguistischen Basis-Annotation der Volltexte (Lemmatisierung, Part-of-Speech-Tagging) der Aufbau kontrollierter Vokabulare und deren
Anbindung an LOD-Ressourcen im Mittelpunkt. Die semantischen Repräsentationen
werden mithilfe des RDF-basierten Simple Knowledge
Organization System SKOS und dessen Erweiterung SKOS-XL realisiert, mit dem sich auch ambige lexikalische Einheiten
und nicht-hierarchische Relationen sinnvoll organisieren lassen. Zur Erstellung
der SKOS-Repräsentation des Baedeker
Corpus wird der OpenSKOS Editor 5 eingesetzt; eine Entwicklung des Meertens
Institute, die bereits für CLAVAS (CLARIN OpenSKOS
Vocabulary Service) verwendet wird, das u. a. die ISO-639-3 language codes im SKOS Format
enthält. Auch die DARIAH-EU Arbeitsgruppe Thesaurus Maintenance verwendet OpenSKOS für eine erste Version der SKOS-Repräsentation des in Entwicklung befindlichen Backbone Thesaurus. Der OpenSKOS Editor sichert
daher die Kompatibilität mit aktuellen Standards und Entwicklungen.

bdk:ConceptScheme(s)
Neben Personennamen beinhalten Reiseführer auf Seiten der
Menschen eine Vielzahl an Gruppenbezeichnungen, die generische Referenzen und als solche, Subjekte charakterisierender Eigenschaftszuschreibungen darstellen (vgl. Schmidt-Brücken 2015). Diese für diskurshistorische Analysen relevanten Belege des Sprachgebrauchs werden jeweils von einem
bdk:Descriptor, einer Unterklasse von
skos:Concept, repräsentiert. Ihnen zugeordnet sind einzelne Terme als
skosxl:prefLabel und
skosxl:altLabel. Mithilfe der
Properties hasTranslation / isTranslationOf und
hasVariant / isVariantOf finden die in den Reiseführern enthaltenen Übersetzungen und Varianten auf Ebene der Terme Berücksichtigung. Auf diese Weise wird der Wortschatz vollständig erfasst und in einem
skos:ConceptScheme zusammengefasst. Der Strukturierung dieses
bdk:ConceptSchemeGroups dienen sechs mit
skos:topConceptOf zugeordnete Kategorien: 1) allgemeine Sammelbegriffe, 2) ethnisch/nationale Gruppen, 3) geographische Konzepte im weitesten Sinne, 4) Berufsgruppen, wozu auch politische, religiöse und wirtschaftliche Funktionen sowie Lebensstile zählen, 5) Religionsgemeinschaften und 6) soziale Gruppierungen. Aufgenommen werden als eigene Konzepte nicht nur Nomen, sondern auch Adjektive, wobei die entsprechenden Konzepte mit
skos:related aufeinander bezogen sind. Abbildung 1 listet die
skos:topConcept(s) und ihre Definitionen auf und gibt einige Beispiele der ihnen zugeordneten Konzepte und Labels sowie deren Beziehungen.

Baedeker Group Taxonomy. Farbliche Hervorhebungen Spalte 2: Konzepte, die in Beziehung zu anderen Konzepten stehen; farbliche Hervorhebungen kursiv Spalte 3 und 4:
Properties für Übersetzungen und Varianten auf Ebene der Terme.

Ein ähnlich vielfältiges Bild ergibt sich im Bereich der Monumente und Sehenswürdigkeiten, die als Gegenstand wertender Beschreibung und Einordnung eine zentrale Rolle in Reiseführern einnehmen. Aufgrund ihrer Vielzahl werden zunächst nur jene Sehenswürdigkeiten strukturiert, die mit Baedeker-Sternen als besonders sehenswert gekennzeichnet sind. Das Spektrum reicht von Architektur
6 und Kunst
7 bis zu Unterkünften, Landschaften und atemberaubenden Aussichten. Diese Kategorien strukturieren jeweils als
skos:topConcept(s) das
bdk:ConceptSchemeMonuments. Derzeit wird an einer Lösung gearbeitet, die es erlaubt, zwischen profaner und sakraler Kunst und Architektur zu unterscheiden und, sofern sakral, die jeweilige Religion zuzuordnen.

Ausblick
Die linguistische Annotation des
Baedeker Corpus und die Erstellung der vorgestellten kontrollierten Vokabulare stellen die Voraussetzung für eine weitergehende systematische Analyse der Textsorte Reiseführer dar. Neben der Identifikation der in den untersuchten Baedeker-Bänden genannten historischen Persönlichkeiten mithilfe der
Virtual International Authority Files und der
Deutschen Biographie erscheint insbesondere die Anbindung der hier beschriebenen Taxonomien an Ressourcen wie die
DBpedia, den
GESIS Thesaurus Sozialwissenschaften, den
AAT Art & Architecture Thesaurus des
Getty Research Institute oder den
UNESCO Thesaurus erfolgversprechend, zumal die Verschränkung der lexikalischen Bestandsaufnahme mit der Kontextualisierung dieser externen Quellen neue Perspektiven auf den Text zu eröffnen vermag. Vor allem aber kann das hier vorgestellte Datenmodell die granulare Analyse jener semantischen Komponenten unterstützen, die das Sprechen über sowohl das ‚Fremde‘ als auch das ‚Eigene‘ bestimmen, und erschließt somit mit rezenten Technologien die Funktionsweise eines Diskurses, dessen Wirkungsgrad bis heute weit über das Feld der Reiseliteratur hinausreicht.

Die digitalen Texte inklusive der Faksimiles und die SKOS-Vokabulare werden zu Projektende in Form einer Web-Applikation
8 zur Verfügung gestellt. Die Navigations- und Abfragemöglichkeiten sowohl in den Volltexten als auch der linguistischen Annotation werden ergänzt durch Register der Wortformen, der Lemmata sowie der semantischen Komponenten. Die vorgestellten SKOS-Vokabulare zu
Menschen und
Monumenten fungieren zudem als Verbindung der konkreten Belegstellen im
Baedeker Corpus und externen LOD-Ressourcen.

Das Projekt „travel!digital. Exploring
People and
Monuments in Baedeker Guidebooks (1875–1914)” wird im Rahmen der Plattform

Digital Humanities Austria
gefördert.
Dominique Maingueneau (2014: 437) nennt Reiseführer explizit als
Vertreter sogenannter Diskursgenres, „[…] das
heißt, soziohistorisch variierende Kommunikationsdispositive“.
Gründe dafür finden sich u. a. darin, dass die Textwissenschaften in der
Vergangenheit stets der Reiseliteratur den Vorrang gegenüber den
Gebrauchstextsorten eingeräumt haben. Koshar, der das Fehlen einer
allgemeinen Geschichte des Genres beklagt, verweist auf den schlechten
Ruf der Reiseführer und bringt dies u. a. damit in Zusammenhang, dass
die Textsorte äußerst variabel und daher konzeptuell schwer fassbar ist
(Koshar 2000: 15-16). Eine Einschätzung, die eineinhalb Jahrzehnte
später noch immer zutreffend ist. Als erwähnenswerte Ausnahme sei die
Arbeit von Sabine Müller (2012) genannt. Dass die digitalen
Geisteswissenschaften bisher kaum zur Verbesserung der Lage beigetragen
haben, hängt vermutlich damit zusammen, dass die (Retro-)Digitalisierung
der komplex strukturierten historischen Bände sehr aufwändig ist.
Derzeit stehen wenige exemplarische Analysen kleiner analoger Korpora
mit Fokus auf entweder Textsortenmerkmalen (vgl. Gorsemann 1995; Pretzel
1995; Ramm 2000; Mittl 2007) oder der Entwicklung einzelner Regionen
(Gorsemann 1995: Island; Pretzel 1995: Rheinland; Forschungsgruppe
Tüschau 16 1998: Polen; Epelde 2004: Indien; Bock 2010: Rheinland), noch
wenigeren computerlinguistischen Arbeiten gegenüber. Die letzteren
basieren zwar auf umfangreicheren digitalen Datenmengen, nachdem jedoch
ausschließlich rezentes Material herangezogen wird, bleiben historische
Aspekte unberücksichtigt (vgl. Neumann 2003; Lam 2007; Gandin 2013,
2014).
Für die breite Untersuchung kultureller Narrative war es naheliegend,
Reiseführer zu außereuropäischen Destinationen in das Korpus
aufzunehmen. Es war Fritz Baedeker, dritter Sohn des Verlagsgründers
Karl Baedeker und seit 1869 Leiter des Hauses, der das Verlagsprogramm
um außereuropäische Titel erweiterte: Palästina und Syrien (1875),
Unter- (1877) und Ober-Ägypten (1891), Nordamerika und Mexiko (1893),
Konstantinopel und Kleinasien (1905), die afrikanische Mittelmeerküste
(1909) und Indien und Ceylon (1914). Die strukturelle und deskriptive
XML-Annotation nach TEI-Richtlinien (Version P5) konnte bereits für das
gesamte Korpus abgeschlossen werden.
Aktuell befindet sich der OpenSKOS Editor in
Überarbeitung. Die neue um SKOS-XL Komponenten
erweiterte Version soll mit Jahresende zur Verfügung stehen.
Unterschieden werden: Kapelle, Kirche, Kloster, Mausoleum, Friedhof, Bildungs- und Wissenschaftseinrichtung, Gesundheits- und Sporteinrichtung, Museum, Sammlung, Palast, Theater, Industriebau, Inneneinrichtung, Verkehrsbau, Ensemble, Park.

Unterschieden werden: Denkmal, Skulptur, Gemälde, anderes Kunstwerk, Sammlung.
Die Applikation basiert auf der
corpus_shell
(Ďurčo et al.), einem modularen
Framework für die Publikation von Sprachressourcen. Zum FCS /
SRU-Protokoll siehe CLARIN ERIC sowie Stehouwer et al. 2012.

Bibliographie

Bock, Benedikt (2010): Baedeker &
Cook — Tourismus am Mittelrhein 1756 bis ca. 1914. Bern / Berlin /
Frankfurt am Main / New York / Paris / Wien: Peter Lang.

CLARIN ERIC (o. J.): Federated
Content Search (CLARIN-FCS). https://www.clarin.eu/content/federated-content-search-clarin-fcs
[letzter Zugriff 10.09.2015].

Digital Humanities Austria: http://clarin.arz.oeaw.ac.at/dha/.

Ďurčo, Matej / Mörth, Karlheinz / Schopper, Daniel / Siam,
Omar (o. J.): corpus-shell. https://clarin.oeaw.ac.at/corpus_shell [letzter Zugriff 10.
September 2015].

Epelde, Kathleen R. (2004): Travel
Guidebooks to India. A Century and a Half of Orientalism. PhD,
University Wollongong http://ro.uow.edu.au/cgi/viewcontent.cgi?article=1195&context;=theses
[10. September 2015].

Forschungsgruppe Tüschau 16 (1998): Die Darstellung anderer Kulturen. Ermittlung von Stereotypen in
deutschen Polen-Reiseführern (der Jahre 1990-1996). Oberhausen: Athena
Verlag.

Gandin, Stefania (2013): “Translating the Language of
Tourism. A Corpus Based Study on the Translational Tourism English Corpus
(T-TourEC)”, in: Procedia — Social and Behavioral
Sciences 95: 325-335.

Gandin, Stefania (2014): “Investigating loan words and
expressions in tourism discourse: a corpus driven analysis on the BBC-Travel
Corpus”, in: European Scientific Journal10, 2: 1-17.

Gorsemann, Sabine (1995): Bildungsgut
und touristische Gebrauchsanweisung. Produktion, Aufbau und
Funktion von Reiseführern. Münster / New York: Waxmann.

Jaworski, Adam / Pritchard, Anette (eds.) (2005): Discourse, communication and tourism. Clevedon:
Channel View Press.

Koshar, Rudy (2000): German Travel
Cultures. Oxford: Berg.

Lam, Peter Y. W. (2007): “A corpus-driven
lexico-grammatical analysis of English tourism industry texts and the study
of its pedagogic implications in English for Specific Purposes”, in:
Hildalgo, Encarnación / Quereda, Luis / Santana, Juan (eds.): Corpora in the Foreign Language Classroom. Amsterdam
/ New York: Rodopi 71-88.

Maingueneau, Dominique (2014): „Diskurs und
Äußerungsszene. Zur gattungsspezifischen Kontextualisierung eines
Zeitungsartikels zum unternehmerischen Bildungsdiskurs“, in: Angermüller,
Johannes / Nonhoff, Martin / Herschinger, Eva / Macgilchrist, Felicitas /
Reisigl, Martin / Wedl, Juliette / Wrana, Daniel / Ziem, Alexander (eds.):
Diskursforschung. Ein interdisziplinäres
Handbuch. Bielefeld: transcript 433-453.

Mittl, Katja (2007): Baedekers
Reisehandbücher Funktionen und Bewertungen eines Reisebegleiters
des 19. Jahrhunderts (= Alles Buch. Studien der Erlanger Buchwissenschaft
22). Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Müller, Sabine (2012): Die Welt des
Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830-1945.
Frankfurt / New York: Campus Verlag.

Neumann, Stella (2003): Textsorten
und Übersetzen. Eine Korpusanalyse englischer und deutscher
Reiseführer. Bern / Berlin / Frankfurt am Main / New York / Paris / Wien:
Peter Lang.

Pretzel, Ulrike (1995): Die
Literaturform Reiseführer im 19. und 20. Jahrhundert.
Untersuchungen am Beispiel des Rheins. Bern / Berlin / Frankfurt am Main /
New York / Paris / Wien: Peter Lang.

Ramm, Wiebke (2000): “Textual Variation in Travel
Guides”, in: Ventola, Eija (ed.): Discourse and
Community. Doing Functional Linguistics. Tübingen: Gunter Narr
147-165.

Schmidt-Brücken, Daniel (2015): Verallgemeinerung im Diskurs. Generische Wissensindizierung in
kolonialem Sprachgebrauch. Berlin / München / Boston: Walter de Gruyter.

Stehouwer, Herman / Durco, Matej / Auer, Eric Auer /
Broeder, Daan (2012): "Federated Search: Towards a Common Search
Infrastructure", in: Proceedings of the Eighth
International Conference on Language Resources and Evaluation (LREC
2012): 3255–3259.

Wierlacher, Alois (1997): „Verfehlte Alterität. Zum
Diskurs deutschsprachiger Reiseführer über fremde Speisen“, in: Teuteberg,
Hans Jürgen / Neumann, Gerhard / Wierlacher, Alois (eds.): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven. Berlin:
Akademie Verlag 498-509.

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In review

DHd - 2016
"Modellierung - Vernetzung – Visualisierung: Die Digital Humanities als fächerübergreifendes Forschungsparadigma"

Hosted at Universität Leipzig (Leipzig University)

Leipzig, Germany

March 7, 2016 - March 11, 2016

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Conference website: http://dhd2016.de/

Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

Series: DHd (3)

Organizers: DHd