Netzwerkanalysen als Methode in der historischen Epistemologie

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Authorship
  1. 1. Dirk Wintergrün

    Max Planck Institute for the History of Science / Institution Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte

  2. 2. Matteo Valleriani

    Max Planck Institute for the History of Science / Institution Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte

  3. 3. Roberto Lalli

    Max Planck Institute for the History of Science / Institution Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte

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Netzwerke und Historische Epistemologie
Methoden der Netzwerkanalyse kommen immer stärker als heuristisches Tool zum
Einsatz, wenn es darum geht historische Prozesse zu beschreiben und zu
analysieren. Netzwerktheorie stellt hierbei eine Möglichkeit dar, um
systematisch Wissensstrukturen und die Formation und Transformation von
Wissenssystemen zu beschreiben. Methodische Ansätze können hierbei von den
Sozialwissenschaften, der Innovationsforschung sowie aus der Informatik und der
Graphentheorie übernommen werden. Zunächst machten die meisten Ansätze in der
historischen Forschung hauptsächlich von den qualitativen Konzepten gebrauch und
weniger von den quantitativen Methoden, die die Netzwerktheorie liefert. Ein
eindrucksvolles Beispiel zeigt sich im Werk von Irad Malkin in seinen Arbeiten
über die griechische Antike (Malkin 2011). Mit der verbesserten Verfügbarkeit
von Tools für die qualitative Analyse verändert sich diese Situation nun
deutlich. Die Anzahl der Fallstudien hat mittlerweile die Größe erreicht, dass
erste Theoretisierungen dieser Methode in der historischen Forschung unternommen
wurden (van den Heuvel 2015). Große Impulse gehen von der sich um http://historicalnetworkresearch.org organisierenden Gruppe aus.
Netzwerktheorie hat insbesondere ein großes Potential in der
Wissenschaftsgeschichte insbesondere der historischen Epistemologie, die
Entwicklung von Wissen als eine Verknüpfung von sozialen, materiellen und
kognitiven Wissenssystemen sieht. Diese Systeme lassen sich als Netzwerke im
Sinne der Netzwerktheorie verstehen. Dazu schlagen wir drei miteinander
interagierende Netzwerke vor: ein soziales Netzwerk, ein semiotisches Netzwerk,
sowie das darüber liegende epistemische Netzwerk: grob gesprochen ein Netzwerk
von Akteuren, ein Netzwerk der Repräsentation von Wissen, das sich in
materiellen Objekten oder auch kodifizierten Verfahren darstellt und schließlich
das eigentliche kognitive Netzwerk. Wir werden in unserem Beitrag die ersten
Ergebnisse zweier Fallstudien vorstellen. Dabei liegt unser Schwerpunkt weniger
auf den konkreten Ergebnissen, sondern darauf zu zeigen, wie sich der Prozess
der Übersetzung von historischen Fakten und Annahmen in netzwerktheoretisch
auswertbare Daten darstellt und damit die Digital Humanities dazu beitragen,
interdisziplinäre geisteswissenschaftliche Forschung zu ermöglichen.

Fallstudien
In der ersten Fallstudie gehen wir der Frage nach, wie sich eine bestimmte
Wissenstradition in der frühen Neuzeit mittels gedruckter Traktate in der Zeit
von 1472 bis in das Jahr 1650 in ganz Europa verbreiten konnte. Es geht hierbei
um die mit der Sphaera des Sacrobosco (Thorndike 1949),
einem ursprünglich handgeschriebenen grundlegenden Text, verbundenen
Wissenstradition. Ursprünglich ein Text über Astronomie und Kosmologie wurde
dieser im Laufe seiner Editionsgeschichte immer wieder durch zusätzliche Texte
erweitert und umfänglich kommentiert. Es gehörte zum verbindlichen Wissenskanon
der Universitäten dieser Periode. In der Zeit von 1472 bis 1650 haben wir bisher
363 Editionen identifiziert, die in ganz Europa veröffentlicht wurden. Welches
sind die Voraussetzungen, die eine solche Verbreitung ermöglichten und welche
Wissensinhalte wurden verbreitet und wie veränderten sich diese über die Zeit?
Wir sehen in der Netzwerktheorie einen vielversprechenden Ansatz diese Fragen zu
klären. Dazu haben wir ein erstes Netzwerk von wesentlichen Akteuren, den
Verlegern, identifiziert, die maßgeblich für die Verbreitung des Traktats waren.
Von welcher Form die Interaktionen zwischen den Verlegern waren, können wir
bisher nur in sehr begrenztem Rahmen sicher bestimmen. Gleiches gilt für Ihre
Rolle in den lokalen Wissensnetzwerken, in die sie eingebunden sind. Es ist
jedoch möglich, Hypothesen über die Einflussbereiche aufzustellen, die die
Kanten in dem Netzwerk rechtfertigen. Diese Hyptohesen lassen sich mit
Netzwerktools in unserem Falle durch den Einsatz von Skripten in iPython (cf.
Pérez / Granger 2007) unter Benutzung der Pakete networkx (cf. NetworkX
developer team 2014) und graph-tool (cf. Peixoto) testen und modifizieren, in
unserem Beitrag werden wir die von uns angewandten Verfahren darstellen. Die
Skripte werden in Zukunft auf der Webseite des Projektes veröffentlicht werden.
Neben den Verlegern gibt es ein weiteres Netzwerk, das eigentliche Netzwerk der
Publikationen besser der Publikationsereignisse, diese stellen im Rahmen der
angerissenen Theorie der Wissenssysteme eine andere Kategorie dar, sie sind
materieller Ausdruck von Wissen, gehören damit zum semantischen Wissenssystem.
Auch hier stellt sich die Frage, wie diese Editionen miteinander in Beziehung
stehen. Offensichtlich stehen diese Beziehungen in enger Verbindung mit dem
Akteursnetz. Jedoch gibt es auch andere Beziehungen, wie zum Beispiel die in den
Editionen enthaltenen zusätzlichen Traktate und Kommentare, oder Abweichungen
von Vorgängern. Auch hier sind wir bisher nur in der Lage Hypothesen
anzustellen, aber auch hier zeigen uns Methoden der Netzwerktheorie bereits
jetzt Wege auf, wie diese sich überprüfen lassen. Schließlich ist die
entscheidende Frage: Welches Wissen wird durch die Traktate in welcher Form
vermittelt und wie trägt dieses zur Wissensorganisation in der frühen Neuzeit
bei? Wie oben beschrieben war das Traktat über die Sphaera ursprünglich ein
Traktat über Astronomie und Kosmologie, die Ergänzungen umfassen jedoch einen
wesentlich erweiterten Wissensbereich. Die Themenfelder, um die das Traktat
erweitert wurden, umfassen Felder der mathematischen Astronomie,
Kalenderberechnungen, die Benutzung und in einigen Bereichen konkrete Anleitung
für die Konstruktion von astronomischen Instrumenten, nautische Astronomie und
Geographie, Kartographie, Meteorologie, Arithmetik, Geometrie, der Konstruktion
und des Gebrauchs von mathematischen Instrumenten zur Ausführung arithmetischer
Berechnungen, Astrologie, Literatur, angewandte Optik und Mechanik. Die Antwort
auf die Frage, welche Inhalte an welchen Stellen in die einzelnen Editionen
eingeflossen sind, gibt Aufschlüsse über die Veränderung der frühneuzeitlichen
Wissensstruktur. Auch hier kann Netzwerktheorie nach unserer Überzeugung einen
wesentlichen Beitrag dazu leisten, schlüssige Antworten aufzufinden. Wir
untersuchen dazu welche Ko-Autoren in welchen Traktaten genannt werden,
insbesondere Clavius und Pedro Nuñes, und wie sich diese Subnetze ausprägen.
Diese Koautoren stehen jeweils für bestimme Wissensgebiete geben also ein Indiz
dafür welche Wissensbereich sich neu etablierten. Auch für diese Analysen haben
wir Skripte entwickelt, die helfen diese Netzwerke zu visualisieren und deren
Charakteristika zu untersuchen. Erste Ergebnisse der Netzwerkanalyse lassen
Rückschlüsse auf die Stabilität des Wissensnetzwerkes zu. Wir können im
wesentlichen drei Phasen deutlich identifizieren: eine noch instabile radiale
Verbreitung, eine relative lange Phase der Stabilität und schließlich eine Phase
der Reduktion.

Abb. 1: Minimaler verbundener Graph der Editionen der
Sphaera. Kanten spiegeln hier die chronologische Ordnung wieder. Dieser Graph
legt die Randbedingungen für die weiter Analyse der Einflussbereiche der
Editionen fest. Blaue Punkte stellen die lateinischen Editionen, rote die
Editionen in lokalen Sprachen dar.

Abb. 2: The graph shows the role of editions where Clavius
is given as one co-author (squares). The color indicates the publishers which
are clustered by city. Only the places where Clavius is a co-author have labels.
The big unnamed cluster in the middle is Paris.

Die zweite Fallstudie widmet sich einem anderen Bereich. Dem epistemischen
Netzwerk der Allgemeinen Relativitätstheorie. Kurz umrissen geht es hierbei um
die Analyse des Prozesses, der dazu führte, dass die ART in der Nachkriegsphase
von einem Randproblem zu einem zentralen Ankerpunkt der theoretischen Physik
wurde. Dieser Prozess wurde auch als "Renaissance der allgemeinen Relativität"
(Will 1983) bezeichnet. Aus einem zersplitterten lose gebundenen Netzwerk von
Einzelpersonen wird in dieser Zeit ein stabiles Netzwerk, dass von Institutionen
getragen wird. Darauf aufbauend entwickelt sich ein Netzwerk materieller
Kommunikation in Form von neuen Journalen und Konferenzreihen, sowie eine neue
disziplinäre Sprache, die das Wissen über die ART kodifizierte. Die ART
entwickelte sich so zur unangefochtenen Theorie von Raum und Zeit (Blum 2015).
Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir ein Netzwerk aus über 500 Akteuren
identifiziert und ihre Beziehungen klassifiziert. Mit Methoden der
Netzwerkanalyse können wir zeigen, welche Akteure über die Zeit an Bedeutung
gewonnen und verloren und die Formation von Subclustern zeigen. Auch hier werden
wir in unserem Beitrag im wesentlichen darauf eingehen, wie der konkrete Prozess
der Umwandlung von historischen Fakten und Hypothesen in netzwerktheoretische
Konzepte als Anwendung der DH in der historischen Forschung vollzogen wird.
Insbesondere werden wir auf die Überlegungen und Schwierigkeiten eingehen,
sinnvolle Verknüpfungen zwischen den Akteuren zu definieren und insbesondere zu
Gewichten, d. h. in der Sprache der Netzwerktheorie, weak and strong ties zu
idenfizieren. Von besonderer Bedeutung ist auch hier die Frage des Umgangs mit
der dynamischen Entwicklung des Netzwerkes. Wie können diese so visualisiert
werden, dass der historisch Forschende daraus Rückschlüsse ziehen kann, wie
können diese Tools so zur Verfügung gestellt werden, dass sie auch direkt durch
den Forscher nutzbar sind? In unserem Fall haben wir dazu unterschiedliche
Ansätze verfolgt, erneut die Umsetzung mittels iPython, und die Visualisierung
dann in Gephi und Cytoscape.

Abb. 3: Visualization of the network of collaborations of
scientists who worked on general relativity in the post-war period. Node size is
proportional to the degree centrality. The color of the nodes is a
representation of betweenness centrality (from lighter to darker).

Bibliographie

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Publishing.

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In review

DHd - 2016
"Modellierung - Vernetzung – Visualisierung: Die Digital Humanities als fächerübergreifendes Forschungsparadigma"

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March 7, 2016 - March 11, 2016

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Contributors: Patrick Helling, Harald Lordick, R. Borges, & Scott Weingart.

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